Versuchsprotokoll

Sonntag, 17.10.21

Einsteigen, Zurückbleiben

Über meine Bahndammmethode und wie sie mich schnurstracks in die politische Dimension von Stimmfindung und Sprachermächtigung führt

Sonntag, 7.11.21

Nicht da, zu Hause

Wie aus meinem sprachlichen Widerspruch eine schwingende Gleichzeitigkeit wird

Mittwoch, 1.12.21

Muster und Meeresoberfläche

Entfremdung als Annäherung

Freitag, 14.1.22

Alle

Überwindung meiner Sprachverlustangst

Donnerstag, 3.3.22

Schallmauer

 

Wie kann ich verstehen, was ich überhöre?

 

Auf einer Wandertour während des Familienurlaubs im idyllischen Oberbayern – rote Geranien vor den Fenstern herausgeputzter Fachwerkhäuser, Apfelernte in der Luft, Hänge im Herbstlaub – neckt der Vater seine elfjährige Tochter, die es auf dem letzten Stück bergab an dem von ihm erwarteten Elan mangeln lässt. Wieder und wieder stellt er ihr ein Bein. Sie kann sich jedes Mal nur gerade noch so fangen. „Hör auf!“, sagt sie. „Hör auf!“, schreit sie. „Hör auf!“, kreischt sie, Tränen längst in ihren Augen. Der Vater hört nicht auf. Rasend vor Ohnmacht stürmt die Tochter dem Vater weit voraus ins Tal. Der Vater ist so hingerissen, dass er Jahre später diese Episode in seiner Rede zur Hochzeit der Tochter nacherzählt.

 

If you don’t have to hear, if your humanity isn’t somehow involved in hearing, you don’t.

 

Dieser Satz der Autorin Gayl Jones fährt in mich und ich durchlebe erneut jene vergleichsweise harmlose Szene meiner Kindheit. Ich mache mich auf die Suche nach dem vollständigen Interview von 1977, in dem er fällt, und kann es nicht finden. Der Satz treibt mich in eine weitere Überarbeitung meines Romans Hinweg, der von einem Ausweg aus häuslicher Gewalt handelt, und den ich eigentlich auf Eis gelegt hatte. Kaum beendet, versuche ich noch einmal, das Interview aufzutreiben. Und plötzlich ist es da, gleich unter den ersten Suchergebnissen. Im Folgenden geht es um selektive Wahrnehmung und Gayl Jones‘ Hören als Gegenmittel.

 

Im Interview spricht Jones der europäischen Literatur die Fähigkeit ab zu „hören“. Sie führt Ausnahmen an, James Joyce zum Beispiel, den nur Dubliner wirklich hören könnten. Sie verwendet dieses Verb statt verstehen, das so eindimensional sei, wie das Schreiben über etwas. Als Autorin, oder, wie sie sich selbst begreift, als Geschichtenerzählerin, bringt sie ihre eigene Position zum Tragen.

 

Jones verortet sich innerhalb der Schwarzen US-amerikanischen Tradition des mündlichen Erzählens und der historisch bedingten Notwendigkeit ihrer Community, hören zu können. Von Bedeutung ist dabei nicht nur das Wortspiel, sondern die Wirkung, also nicht nur das Verhältnis zwischen den Wörtern, sondern vor allem auch ihr Verhältnis zu den Zuhörer·innen. Das gesamte multidimensionale Gebilde mit den Koordinaten Zuhörer·in, Sprache, Erzähler·in bildet den Raum der Geschichte. Sie sind nicht außen vor, sie bringen ihn hervor.

 

Obwohl gerade Jones‘ Beispiel mit James Joyce und ihr ausdrücklicher Bezug zur Black Community nahelegen, dass diese tragenden Elemente einer konkreten Partikularwelt angehören, zeigt die Autorin eine Dynamik auf, die sie nicht dort verweilen und um sich selbst drehen, sondern über sich hinausgehen lässt. Jones‘ Hören deute ich so auch als eines, das sich nicht auf die Akustik beschränkt.

 

Eine meiner Nachbarinnen ist Familientherapeutin, mit besonderer Qualifizierung für Beziehungen mit gehörlosen Mitgliedern. Mittlerweile arbeitet sie bevorzugt mit letzteren, weil ihr die hörenden Familien zu taub sind, zu unbeweglich, behindert darin, andere Perspektiven einzunehmen.

 

Ein literarisches Beispiel für diese Unbeweglichkeit liefern die Nebenerzähler·innen in Rachel Cusks Outline-Trilogie, die sich gegenüber der Haupterzählerin auslassen, aber nicht zuhören oder nur wie mit angehaltenem Atem, bis sie das Gespräch wieder an sich reißen. Es sind drei Romane über Außen- und Innenansichten und die Barriere dazwischen, die scheinbar nur überwunden werden kann, wenn Mensch durch ein einschneidendes Ereignis dazu gezwungen wird. Bis dahin stecken die Erzähler·innen in ihrer kleinen Welt fest und wie sie auf andere wirken, oder was andere angeht, nehmen sie nicht bewusster wahr, „than the mountain notices the climber that loses his footing and falls down one of its ravines.“ (Outline, S. 94)

 

Ich stürzte einst in eine Existenzkrise, nachdem ich Kafkas Forschungen eines Hundes zu Ende gelesen hatte. Ich lag wie erschlagen mit ausgebreiteten Armen auf einem Dach in Barcelona und schaute in den Sternenhimmel und dachte, scheiße, es wird immer etwas geben, das ich in meiner menschlichen Beschränktheit nicht wahrnehmen kann. Mit meinem Erkenntnisstreben unterscheide ich mich in nichts von Kafkas Hund, der mindestens einen entscheidenden Faktor in seinem Leben, die Existenz von Menschen, nicht wahrnehmen kann und sich deshalb trotz verbissener Forschung Phänomene wie die durch die Luft schwebenden (getragenen) Hunde nicht erklären kann. Er verspottet noch seine Artgenossen, die sich auf der Jagd nach ihrem eigenen Schwanz um sich selbst drehen, macht es ihnen mit seinen Forschungen aber im Grunde nach, ich als beflissene Studentin ebenso. Wozu das Ganze?

 

Damals lautete meine Antwort, weil ich es liebe. Gleiches gilt für mein Schreiben bis heute. Auch wenn die Romantik nach Jahren der harten Arbeit nachlässt, ich kann es nicht lassen. Wenn ich also nun einmal Texte in die Welt setze, dann dürfen sie meinetwegen nutzlos oder aberwitzig sein, aber Schaden anrichten sollen sie nicht. Wie kann ich mein Hören à la Gayl Jones schärfen?

 

Kurze Songeinlage: Der Mond ist aufgegangen …

 

Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
     Und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
     Weil unsre Augen sie nicht sehn.

 

(Matthias Claudius, 1779)

 

Ich hatte meine Art Mondmoment, als ich auf einer Busfahrt durch eine Stadt in der Südtürkei an einem Wassertank auf Stelzen mit der Aufschrift „hitler ölmez“ vorbeikam, was heißen würde, Hitler sei unsterblich, wenn das alles gewesen wäre. Ich traute meinen Augen nicht und starrte weiter auf den kugelförmigen Kessel, während der Bus einer Kurve folgte und mein Sichtfeld zum vollständigen Text fuhr: „Şehitler ölmez“ – Märtyrer sind unsterblich – ein gängiger Schriftzug in der Türkei, der mir ebenfalls widerstrebt, aber in unvergleichlich geringerem Maße. Ich sah, was ich trainiert war zu sehen. Von all den optischen Reizen im urbanen Chaos reagierte ich auf den Bruchteil der verblassten Worte wie auf ein obszönes Schnalzen, das mich trotz Verkehrslärm penetriert. Und dann enthüllte die Bewegung nicht nur das erweiterte Bild, sondern auch meine Beziehung zu ihm.

 

Es gibt Darstellungen, deren gewählter Ausschnitt einen Abdruck der Situation jenseits der Bildkante in sich trägt und auch den Fluss der Zeit gerade durch das Fixieren eines einzelnen Moments veranschaulicht. Henri Cartier-Bressons Fotografien und seine Theorie des „entscheidenden Augenblicks“ haben diese Kunst geprägt. Sowohl Künstler·in als auch Betrachter·in bleiben hier vermeintlich neutral außen vor. Sie wirken nicht auf die Szene ein und die Szene hat nichts mit ihnen zu tun. Das Bewusstsein für die eigene Position und Voreingenommenheit wird ausgeblendet. Diese Darstellungen sind das visuelle Äquivalent zu der Literatur, von der Gayl Jones sagt, sie schreibe über etwas und könne verstanden werden.

 

Anders verhält es sich mit den Fotoarbeiten von Barbara Probst. Sie setzen sich aus mehreren Aufnahmen zusammen, die ein Setting zeitgleich aus unterschiedlichen Perspektiven erfassen, mitunter auch die involvierten Kameras selbst. Die präzise Choreografie aus Figuren, Gegenständen, Hintergründen, Licht, Atmosphäre und Gerätschaften suspendiert den Zusammenhang zwischen den einzelnen Bildern – auf den ersten Blick. Ein angebissener Apfel hier erscheint dort rund und rot. Eine Fassade oder Straßenansicht hier ist ein Interieur mit einer Frau, die aus dem Fenster schaut, dort. Hier steht ein Tisch vor einer blauen Wand, dort vor einer weißen. Ein großer grüner Faltenwurf hier ist dort im Schwarzweißbild ein übersehbares Tuch auf einem Sofa. Der Perspektivwechsel kann aber auch so subtil sein, dass zwei Doppelporträts identisch scheinen, aber derart irritieren, dass sie die Betrachtung verlängern, bis die unterschiedlichen Blickrichtungen der Dargestellten die Verschiebung aufzeigen. Unterdessen wirken die Beziehungen zwischen den Fotografien wie Koordinaten, aus denen ein Raum entsteht im Kopf der Betrachter·innen, der sie einbezieht, ja, zum notwendigen Element im Gefüge macht, und der sie mit der Frage konfrontiert, wie wir eigentlich sehen. Nur mit den Augen?

 

Der Musiker JJJJJerome Ellis denkt auf seinem Album The Clearing Schwarzsein und Musik zusammen mit nicht-normativem Sprechen. Ellis spricht mit einer Glottisblockierung, einer Art Glottisschlag wie in bechten, ernnern oder Autor*n, nur unfreiwillig und gestreckt. Der Titel des Albums bezieht sich auf diese stillen Phasen seines Sprechkontinuums. Er assoziiert die Lichtungen – clearings – mit den Loops, den Diskontinuitäten, in Schwarzer Musik. Sie stellten, so Ellis, eine Öffnung für neue Möglichkeiten dar, verwandt mit Harriet Jacobs‘ „Loophole of Retreat“, dem Schlupfloch, das die Flucht aus der Sklaverei ermöglicht, und der Textlücke, durch die das eigene Narrativ dem vorherrschenden Diskurs entkommt.

 

Ellis‘ Album enthält einen Mittschnitt von seinem Versuch, telefonisch ein Buch zu bestellen. Als er nicht weiterredet, denkt die Verkäuferin, die Leitung sei unterbrochen, und legt auf. „Something prevented the bookseller and I from gathering in the clearing“, sagt Ellis. Er ruft erneut an, erklärt den Grund für die Pausen, und sie lässt sich umstandslos darauf ein, völlig cool. Aber wäre es nicht großartig, wenn wir eine Abweichung von dem, woran wir gewöhnt sind und was wir erwarten, nicht erst erklärt bekommen müssten?

 

Kann es sein, dass das Hören, von dem Gayl Jones spricht, nicht nur die Koordinaten Zuhörer·in, Sprache, Erzähler·in involivert, sondern einen weiteren Faktor, die Stille? Das Element, das wir nicht in der Lage sind zu hören, das wir aber voraussetzen können, weil wir ja wissen, dass wir beschränkt sind?

 

Eine Podiumsdiskussion vor vielsprachigem Publikum, unter dem ich mich befand, entwickelte erst dann eine Dynamik, als beide Seiten in die Übersetzung einbezogen wurden, um die Beiträge und Fragen für alle verständlich zu machen. Das konnte über mehrere Ecken gehen; jemand verstand Katalanisch, konnte aber nur Portugiesisch sprechen, jemand, der Portugiesisch verstand, konnte auch kein Spanisch oder Katalanisch, dafür aber Italienisch, so dass eine Frau aushelfen konnte, die Italienisch verstand und Spanisch sprach, was wiederum die Podiumsmitglieder verstanden. Der Inhalt wanderte durch die Menge wie ein Band. Sicherlich entstanden unterwegs Missverständnisse und Verdrehungen, aber die absolute Bereitschaft, auf alles zu hören, alles einzubeziehen, auch die Verständnislücken, ließ es nicht abreißen.

 

“I have to bring the written things into the oral mode before I can deal with them“, sagt Jones im Interview. Mit Sprache umgehen, oder wörtlich, mit ihr handeln, das macht ihr Hören aus. Dabei kann ich nicht so tun, als stünde ich außen vor, als wäre ich neutral. Mein ganzer Körper wird involviert. Ich könnte mich nicht bewegen, wenn es keine Freiräume gäbe. Ich will in die Richtung horchen, aus der mich kein Ton erreicht.

 

Die Ausgangsfrage zu diesem Text hatte ich mir gestellt, bevor ich das vollständige Interview gefunden hatte. Ich lasse sie stehen, weil anscheinend selbst eine Frage, die falsch oder unpräzise ist, noch Antworten finden kann, solange sie auf der Suche bleibt. Missverständnisse sind produktiv, solange alle Parteien weiter versuchen, „to gather in the clearing“. Was für ein schöner Treffpunkt, der aber gerade wegen seiner Essenz und Bedingung, der Offenheit, angreifbar ist.

 

Was auf der Wandertour in Oberbayern geschah, war kein Missverständnis. Es war ein Nichthören. Und das ist nicht minder brutal als die Gewalt, die oft damit einhergeht oder folgt. Eine Schallmauer ist felsenfest. Mensch kann an ihr zerbrechen. Brecherspitz heißt übrigens der Berg, auf den die Familie gewandert war, Gipfel des Brechers, der Gipfel, der bricht.

 

 

* Gayl Jones Interview von Michael S. Harper, The Massachusetts Review, Winter 1977, Vol. 18, No. 7, S. 692-715.

** Rachel Cusk, Outline, New York: Picador, (2014) 2016.

*** Ein erster Eindruck von Barbara Probsts Werken lässt sich auf ihrer Webseite gewinnen: https://barbaraprobst.net

**** JJJJJerome Ellis, The Clearing, Electronic, 2021.