Versuchsprotokoll
Sonntag, 17.10.21
Einsteigen, Zurückbleiben
Experimentieren bedeute zunächst einmal Reduzieren, überhöre ich Hans-Jörg Rheinberger im Radio. In relativ begrenzten Bedingungen werde das Zufallsprinzip wirksam.
Könnte das meinen letzten Mittwoch erklären?
Mittwoch, 13.10.21
Ich strenge mich an, nicht an den Sprachversuch zu denken. Ich will partout keine Pläne schmieden. Das Experiment soll sich genauso entwickeln, wie ich den Bahndamm für mich entdeckt habe, auf dem ich gerade spazieren gehe.
Über zwei Jahre war ich an ihm vorbei eine öde Straße entlang bis zum nächsten Grün gejoggt, bevor ich kürzlich spontan von der gewohnten Strecke abwich. Könnte es nicht hinter der Hecke dort am Rand der Wiese noch weitergehen? Ich kämpfte mich durchs Geäst und folgte einem verwunschenen Pfad, der zwischen einer mit Graffiti besprühten Gartenmauer und einer überwucherten Böschung entlangführt, bis ein Bauzaun mir den Weg versperrte. Mir war noch nicht nach Umkehren. Ich kraxelte links durch die Büsche den Hang hoch, kam oben auf dem Kamm dieses Bahndamms wieder heraus und konnte zwischen Häuserrückwänden und Schienen ungehindert kilometerlang weiterlaufen.
So geht es mir oft beim Schreiben. Ich komme an meine Grenzen, mühe mich an ihnen vorbei oder über sie hinweg und erreiche eine neue Ebene. Wenn Mensch weitergeht, geht es auch weiter, so scheint es. Aber so einfach ist das natürlich nicht, woran ich später am Tag noch erinnert werde.
Der Trampelpfad auf dem Bahndamm zeigt mir, dass ich nicht die Einzige bin, die diesen versteckten Weg kennt, aber auch an diesem Mittwochnachmittag habe ich ihn für mich allein. Mitten in Berlin! Mitunter stehen die Bäume so dicht, dass ich der Stadt ganz entfleuche. Nur meinem Sprachversuch entkomme ich nicht. Er hat längst ein Eigenleben angenommen, als reichten ein paar Funken im Hirn, um ein Vorhaben real werden zu lassen. Er läuft praktisch neben mir her und spielt mir Ideen zu.
Zunächst bleibt keine hängen, doch kaum denke ich, dass ich Stimmen sammeln, sie zusammen mit ihren Körpern, ihrer Haltung und Mimik, wahrnehmen möchte, da schallt, augenscheinlich fern jeder Menschenseele, eine körperlose, digital generierte Durchsage windverzerrt durchs Laub:
„… Einsteigen … Zurückbleiben …“
Es klingt wie eine Frage. Are you in or are you out? Willst Du in dieser Sprache sein oder nicht sein?
Als ich vom Spaziergang nach Hause komme, erhalte ich eine E-Mail von just der Schauspielerin, deren Stimme die einzige ist, die mir Zugang zu meiner Sprache verschafft, Charlotte Puder. Wir kennen uns nur flüchtig, haben ein, zwei Mal im Jahr Kontakt. Sie weiß wohl, dass ich ihre Stimme liebe, aber sie weiß noch nichts von diesem Sprachversuch, der gerade an diesem Tag einen Frühstart hinlegt. Ob ich ihre Textnachricht nicht erhalten habe, sie spiele an diesem Abend im Renaissance Theater in einem Stück nach Christa Wolfs Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Ob ich kommen wolle.
Hallo, zweiter Zufall des Tages, denke ich und schwinge mich aufs Rad. Auf dem Weg quer durch die Stadt nach Charlottenburg komme ich am Brandenburger Tor nicht weiter. Großer Zapfenstreich. Die rotweißen Absperrgitter hätte es gar nicht gebraucht. Ein undurchdringlicher Albdruck überwölbt den Reichstag weiträumig. Ich weiche zurück und komme auf meinem Umweg am Holocaust Denkmal vorbei, das an diesem Abend dasteht, als hätte man ihm die Tür vor der Nase zugeknallt. Rein in den Tiergarten, ich bin spät dran, kann aber nicht rasen, es ist so finster.
Seit heute Morgen leuchtet auf meinem Bildschirm ein Foto von der Betonmauer, die die Türkei an der Grenze zum Iran errichtet, um Menschen auf der Flucht aus Afghanistan aufzuhalten. Ich kenne die Region und sie kommt in Neuland Kluft vor, dem Roman, an dem ich gerade arbeite. Das Bild gehört jetzt zum Recherchematerial und wird den Roman formen. Ich habe es aber ehrlich gesagt auch abgespeichert, weil es paradoxerweise so schön ist.
Die Luftaufnahme zeigt einen großen Ausschnitt der kargen, kantigen Hügellandschaft, die jeden Moment wie eine stürmische See über den vergleichsweise mickrigen Streifen Beton hereinzubrechen droht. So unüberwindbar die Mauer in Wirklichkeit sein wird, das Bild führt vor, wie lächerlich unser Menschenwerk ist. Bald schießen wir auf den steigenden Meeresspiegel, resignieren, halten eine Parade ab und errichten Betonmauern gegen die Fluten.
Stadtlichter am Bahnhof Zoo. Die Straßenuhr zeigt mir, dass ich noch drei Minuten habe. Ich pese die Hardenbergstraße hoch, die Fahrspuren wie ausgestorben, ziehe links rüber, schließe schnell mein Rad an und renne zur Theaterkasse.
Schon die Aufnahme meiner Daten für die Coronaschutzmaßnahmen, das Kaufen und Scannen der Karte kommen mir wie eine Performance vor. Theaterhäuser machen das mit mir. Meine Welt erfährt einen Ruck raus aus der Realität.
Hoch die geschwungene Treppe und dort oben links im Bruckner Foyer stehen etwa 30 Stühle. Das Publikum löst sich gerade von der Bar, ich kann noch Hallo zu Charlotte sagen, die sich unter ihnen tummelt, und dann geht es schon los. Die türkisfarbenen Wände und vergoldeten Ornamente weichen dem blauen Himmel und der Sonne Kaliforniens. Das Stück spielt in Los Angeles, wo sich kurz nach der Wende eine Frau aus Ostdeutschland ihrer Vergangenheit stellt.
Es ist ein Monolog-Schauspiel. Eineinhalb Stunden nur Charlottes Stimme hören, direkt vor mir, verkörpert, die Spaziergangidee lebendig. So hätte es sein können, aber dafür ist Charlotte eine zu gute Schauspielerin. Sie versetzt mich in die Erzählerin hinein, die sie darstellt. Ich bin in ihrem Hotelzimmer, folge ihr zu den anderen Schauplätzen in der Stadt und begegne denselben Figuren wie sie. Ich wühle mit der bloßen Hand in einem Haufen Spiegelscherben nach der Wahrheit und bekomme immer wieder eine andere Seite von mir zu Gesicht, bis meine Geschichte und meine Erinnerung frontal kollidieren.
Im Nachhinein versuche ich mich besonders an eine Szene zu erinnern, in der die Erzählerin der Diskrepanz zwischen ihrer körperlichen Erfahrung des Mauerfalls und der historischen Begrifflichkeit, in die das Ereignis gehüllt wird, nachspürt. Ich bekomme ihre Worte nicht mehr zusammen, ich höre nur noch, wie sie mehrmals hintereinander „Wende“ sagt und sich jene Diskrepanz zwischen Körper und Sprache auftut wie ein Spalt zwischen Betonplatten, die mich zerreiben.
Mind the gap. Eine S-Bahnschaffnerin würde mich jetzt auffordern, die Tür freizumachen. Aber ich kann weder einsteigen noch zurückbleiben. Will ich in meiner Sprache sein oder nicht sein? Ja, ließe sie mich denn in ihr sein? Versuche ich ihre Körperlichkeit zu reklamieren, um nicht so angreifbar, nicht so wehr- und widerstandslos zu sein? Um nicht verdinglicht zu werden? Um andere nicht zu entmenschlichen? Die Natur nicht zu denaturalisieren?
Andere Sprachen versachlichen auch. Auf Türkisch etwa heißt es nicht, Kurden seien ermordet worden, sondern „Terroristen wurden ausgeschaltet [teröristler etkisiz hale getirilmiş]“. Ist es für mich behaglicher, in Fremdsprachen zu sein, weil ich eben nicht in ihnen zu Hause bin? Weil ich als Besucherin Beobachterin bleiben und mich vor Verantwortung drücken kann?
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Der Mittwoch war ein Tag voller Zufälle oder Fügungen oder wie man das nennen will. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass eine Idee – hier konkret die Idee, einen Sprachversuch durchzuführen – auf mich wirkt wie ein Labor, in dem selbst die disparatesten Elemente eine Reaktion miteinander eingehen. Da ich nun auch noch zufällig Rheinberger im Radio gehört habe, folge ich doch seiner These, dass selten Einzelexperimente Erkenntnis brächten, sondern sich die Prozesse eigentlich nur begreifen ließen, wenn man sie als fortlaufenden Vorgang verstehe. In einen solchen kann ich sehr wohl einsteigen. Es geht also weiter. Auf bald.
* Philosophie des Experiments. Hans-Jörg Rheinberger im Gespräch mit Wolfram Eilenberger, Deutschlandfunk Kultur. Gehört am 17.10.2021.
** Das Foto, von dem ich spreche, ist von Chris McGrath. Weitere Bilder über die aktuelle Situation in der Osttürkei sind samt Anmerkungen auf dem Instagramprofil des Fotografen zu sehen: @cmcgrath_photo.
*** Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Nach einem Roman von Christa Wolf. Monolog-Schauspiel mit Charlotte Puder. Regie: Lizzy Timmers. Gesehen am 13.10.2021 im Renaissance Theater in Berlin.