Versuchsprotokoll
Sonntag, 7.11.21
Nicht da, zu Hause
Vor langer Zeit, auf der Fahrt, meinem Umzug, nach Barcelona, Riesin in schwarzem Fiat Panda, las mir Javier Marías, via Kassette, aus seinem Roman Corazón tan blanco vor. Es klang wie Musik. Ich verstand kein Wort. Ein Jahr später, mitten im Frust darüber, dass ich mit meinem Spanisch so gar nicht weitergekommen war, stieß ich erneut auf das Tonband – und verstand alles! Es war, als hätte sich die Sprache verändert und nicht ich. Meinen Sprachversuch protokolliere ich, um mir Sprache nicht einfach so passieren zu lassen. Ich will mir vergegenwärtigen, wie sie wirkt, auf körperlicher Ebene, und die Bereiche ausmachen, die ich stärken kann, um widerständiger auf sie zurückzuwirken.
Am 20.10. habe ich mich auf der Frankfurter Buchmesse umgehört, ob noch weitere Büchermenschen mit ihrer Sprache hadern oder ob meine Sprachallergie ein Einzelphänomen ist. Vordergründig lässt sich das Ergebnis knapp zusammenfassen: Jup, bin allein damit. Nun war meine Frage nach dem körperlichen Sprachempfinden eine intime. Ich bin überrascht, wie offen ihr überhaupt begegnet wurde. Aber die Gesichter drückten auch Gedanken aus, die sich nicht spontan artikulieren ließen. Sie verdienen in geplanten Interviews wieder aufgegriffen zu werden. Das wird folgen. Für jetzt geht es um die Begegnungen und Beobachtungen auf der Messe, konkret an den Ständen von Spector Books, Verbrecher Verlag, kookbooks und Ink Press, die meinen Sprachversuch direkt in eine produktive Zone versetzt haben.
Das Literaturmagazin PRÄ|POSITION hat ein Gespräch mit Jan Wenzel von Spector Books geführt und jüngst veröffentlich. Davon angeregt suche ich als Erstes diesen Verlag auf. Fast als Erstes. Auf dem Weg dorthin verfange ich mich in den Büchern der Designhochschulen und internationalen Gestaltungshighlights, leider sehr verträumt, so dass ich jetzt nicht mehr sagen kann, von wem das Buch stammt, das Seite um Seite, ohne Rand, die Faserung eines Baumes abbildet, als wären Holzlatten kopiert worden, auf geschmeidigem Papier, das mich zum Weiterblättern verführt, so weit, dass ich den Eindruck gewinne, die Faserung wie Worte lesen zu können. Sprechen schon wieder Bäume zu mir? Geradezu berauscht schlage ich bei Spector Books auf.
Die Buchmesse bietet die seltene Gelegenheit, das gesamte Programm eines Verlages, zumindest das jüngste, vor Augen zu haben, durchblättern zu können und seine Eigenart buchstäblich zu erfassen. So sehr sich Spector Bücher voneinander unterscheiden, fällt mir eine Gemeinsamkeit auf. Ihre Typografie justiert die Balance zwischen Schriftbild und Inhalt so fein, dass die Sprache vibriert, lebendig wird im Geist, ihn belebt. Mensch bekommt beides, Leselust und visuelles Vergnügen, gleichzeitig, nicht unabhängig voneinander, sondern sich gegenseitig bedingend, steigernd.
Diese Eigenaktivität einer Gestaltung nenne ich seit Kurzem „Schwingen“. In meiner literarischen Arbeit ist ein Text für mich fertig, wenn er „schwingt“. Der Keim dieses simplen, aber für mich hilfreichen Prinzips hat sich mir unter Hochdruck eingepflanzt. 2016, gerade noch den Militärputsch und seine unmittelbaren Folgen in Istanbul durchgestanden, lehrte ich Islamische Kunstgeschichte in den USA, als Trump die Präsidentschaftswahlen gewann und die Islamophobie anheizte. Gegenüber der Geistesstarre identifizierte ich mich mit der ʿAjab-Ästhetik. Im Samarra des neunten Jahrhunderts stand sie für die Lust an Dingen, die sich nicht fassen lassen, nicht als faules je-ne-sais-quoi, sondern als Portal zur Transzendenz. Ausdruck fand die ʿAjab-Ästhetik in instabilen Farben und Formen, etwa irisierenden Keramikglasuren oder figürlichen Darstellungen und Ornamenten, deren Bildebenen zwischen Vorder- und Hintergrund schwanken oder derart verschwimmen, dass eine Metaebene erscheint.
Ich kann dieses Schwingen aber auch an Kunstwerken aufzeigen, die Euch eher vor Augen schweben dürften, wie etwa Piet Mondrians Rastergemälde. Ihr Abstraktionsprozess verkörpert Mondrians Suche nach den essenziellen Bildmitteln als Basis für eine Neubegründung der Kunst, nachdem diese angesichts des Ersten Weltkriegs vollends versagt hatte. Er fand diese Bildmittel in Linie, Farbe und Bildfläche, so der Wissensstand. Doch trotz ihrer betonten Eigenständigkeit – breite, schwarze Linie, die nicht nur Farbkante ist; starke Farben im Kontrast zur unbunten Bildfläche – nehmen sie ambigue Rollen ein. Die Farbe wird so schmal wie die Linie, die Linie flächig breit, die unbunte Bildfläche rückt ins Zentrum anstelle der Farbe. Bei aller Balance, die die Bildmittel gerade durch ihre Eigenständigkeit herzustellen vermögen, bleibt das Bild durch ihre instabilen Rollen bewegt. Ist dieses Schwingen etwa das eigentliche essenzielle Bildmittel? Zumindest wird ein Motiv Mondrians Werk nachfolgend bestimmen: Rhythmus.
Die essenziellen Titelmittel hat der Verbrecher Verlag gefunden. Im Kontrast zur Vielfalt zuvor am Stand von Spector Books empfangen mich hier die uniformen Bücher mit einem Knall, wie sie dort stehen, eins neben dem anderen, Reihe um Reihe. Eigentlich kein Fan davon, wenn ein Verlag der Literatur sein Markenzeichen aufdrückt, verhält es sich beim Verbrecher Verlag anders. Das Branding bleibt durchweg präsent, aber seine Wucht schiebt die Titel in den Vordergrund und lässt sie dort wie Einwort- oder Kurzgedichte leuchten. Am Stand merke ich es wieder, ich halte ein Verbrecherbuch einen Moment länger geschlossen in der Hand. Ich verweile bei der Coverpoesie, mein Umfeld fällt weg, der Buchdeckel öffnet sich wie eine Tür, ich steige ein – und werde überrascht. Hier sind Worte Wonne, selbst für mich.
Ich erlaube mir, von Poesie zu sprechen, nicht weil ich Ahnung von Lyrik hätte, sondern weil ich gerne direkt durch meine Bildungslücken hindurch den Missverständnissen in die Arme laufe. Das macht Spaß. So komme ich weiter.
Beim Messestand von kookbooks angelangt, holt mich jemand dort ab, wo ich bin, und macht mir die einzelnen Gedichtbände zugänglich. Er liest Gedichte aus Charlotte Warsens Plage an. Seine Stimme schwingt sich gewandt durchs Zeilengerüst, hoch, runter, seitwärts, zurück, vorwärts. Die Worte lösen sich von der Seite und zirkulieren im Raum. Ganz zuletzt erwähnt er seinen eigenen Gedichtband, Gestohlene Luft. Ich spreche also mit Yevgeniy Breyger. Ich entschuldige mich hier nochmals für meine Unverfrorenheit, bin aber gleichzeitig froh, dass ich ihn frage, ob er mir eines seiner Gedichte vorlesen würde. Er wählt „Königreich des weiten Wegs“. Es oszilliert. Mal ist es so greifbar, dass es mich durchdringt, mal so atmosphärisch, als führte es ins Jenseits. Ich sehe nebeliges Grün und Blau, fliege rasant durch ein Tal und durchwandere es mit schweren Füßen.
Als ich ein paar Tage später Breygers Buch bestelle, lese ich in seiner Beschreibung: „Erinnerung strömt durch Gelenke, sammelt sich in Faszien, wird Information, Narrativ, Krankheit – wird übertragen.“ Dieses „wird übertragen“ fährt mir in die Brust. Bin ich Kindeskind derer, die der verschlossenen Lunge in „Königreich des weiten Wegs“ die Luft gestohlen haben? Stehle ich weiterhin diese Luft?
Kurz nach der Buchmesse höre ich die erste Folge von Fabian Sauls Audioserie „Schlechte Wörter“. Ausgehend von Ilse Aichingers gleichnamigen Text wird einem Sprachgefühl nachgespürt, das die Reproduktion von Gewalt in der Sprache zu überwinden vermag. Darin teilt Senthuran Varatharajah Frantz Fanons Auffassung, dass, wenn wir in einer Sprache sprechen, wir die ganze Last ihrer Kultur mitaussprechen. Es bestehe nicht nur ein historischer Schuldzusammenhang, führt Varatharajah aus, sondern auch ein grammatikalischer und syntaktischer. Unsere Beteiligung an der Sprache mache uns unweigerlich zu Komplizen.
Ich will keine Luft stehlen. In meinem ersten Eintrag vom 17.10. berichte ich, wie mein Sprachversuch mich mit der Versachlichung konfrontiert, die Verbrechen an Mensch und Umwelt vorausgeht. Mich allein auf grammatikalischer und syntaktischer Ebene der Komplizenschaft zu widersetzen hieße, die Sprache als isolierte, von mir, meinem physischen Ich mit all seinen eigenen und geerbten Erinnerungen abgetrennte Sache zu betrachten und somit intrinsisch die Versachlichung fortzuschreiben.
Die körperliche Wirkung von Sprache packt mich erneut, als ich nach kookbooks an der Lesebühne der unabhängigen Verlage hängenbleibe. Die belarusische Autorin Julia Cimafiejeva liest. Ihre O- und U-Töne ziehen mich in den Bann der mir fremden Sprache. Tage später höre ich im jüngsten New Yorker Poetry Podcast Forrest Gander auf den Linguisten Reuven Tsur und dessen These verweisen, dass Laute Sinn generieren, noch bevor wir die semantische Bedeutung erschließen, dass wir die Bedeutung fühlen, noch bevor wir sie verstehen. Ein Eintrag mehr in meiner Lektüreliste. Zurück an der Lesebühne hebt eine deutsche Stimme an, Cimafiejevas Text zu übersetzten. Die Schwingung erstarrt zum Klotz. Mir fehlt der Resonanzboden für meine Sprache.
Entmutigt drifte ich weiter. Die weiten Gänge spülen mich an den Stand von Ink Press. Bislang habe ich Übersetzungen übergangen. Sie schienen mir für meinen Sprachversuch irrelevant. Doch die Gestaltung hier becirct mich. Ich lerne, dass die Fotografien der Cover Filmszenen entstammen, die auf der Basis der Texte, die sie nun umschließen, gedreht wurden. Andere Künste verfahren ähnlich mit weiteren Titeln des Verlags. Auch Übersetzerinnen, deren Muttersprache die Sprache ist, die sie übertragen, und nicht die, in die sie übertragen, waren am Werk. Ein Fächer von Übersetzungen jenseits von Grammatik und Syntax. Die Bücher atmen. Im Gespräch mit der Verlegerin, Susanne Schenzle, begreife ich die Bedeutung dieser erweiterten Übersetzung für meinen Versuch, Zugang zu meiner Sprache zu finden.
Was übersetzt mein Körper? Ich schreibe per Hand. Meine Hände zittern. Immer. Schon seit meiner Kindheit. Die Feder eines Füllers kann ich nicht handhaben. Tintenstifte gingen, ergäben aber zu viel Plastikmüll. Mein Schreibinstrument ist der Bleistift. Im Kunstunterricht wurde er einst eingesetzt, um Kinder zu Ordnung und Sauberkeit zu erziehen. Meine Hände widersetzen sich dieser Disziplinierung. Der tief in mir sitzende Schrecken ist nun Teil meiner Widerständigkeit. Im Schreiben kann aus meinem Zittern Schwingen werden. Ich schreibe das Trauma um, nicht um es zu verdrängen, sondern um es nicht zu reproduzieren.
Neben Javier Marías‘ Corazón tan blanco, übrigens ein Roman über die Macht der Sprache, hat nur eine weitere Kassette mein Nomadendasein bis hierher mitgemacht. Sie trägt eine Aufnahme aus der Zeit, in der mein Sohn sprechen lernte. Er imitiert meine Anrufbeantworteransage und sagt: „Wir sind nicht da, zu Hause.“
Nach der Messe bin ich versöhnter. Ich verharre nicht mehr auf der Schwelle zwischen Einsteigen und Zurückbleiben, sondern entdecke eine ganz neue Ebene in der schwingenden Gleichzeitigkeit meines sprachlichen Nicht-da- und Zu-Hause-Seins.
* PRÄ|POSITION im Gespräch mit Jan Wenzel von Spector Books. https://praeposition.com/text/vorzeichen/12-jan-wenzel, gelesen am 12.10.2021.
** Matthew D. Saba. „Abbasid Lusterware and the Aesthetics of ʿAjab.” Muqarnas Online 29/1 (2012): 187-212.
*** Yevgeniy Breyger. Gestohlene Luft. kookbooks, Berlin, 2020. Daraus vorgelesen bekommen am 20.10.2021: Königreich des weiten Wegs. Die zitierte Beschreibung zu diesem Band habe ich hier gelesen am 27.10.2021: https://tucholsky.buchkatalog.de/product/3000003087609/Buecher_Drama-und-Lyrik/Yevgeniy-Breyger/Gestohlene-Luft
**** Forrest Gander reads Ada Limón. The New Yorker Poetry Podcast. https://www.newyorker.com/podcast/poetry/forrest-gander-reads-ada-limon, gehört am 23.10.2021.
***** Schlechte Wörter. Audioserie von Fabian Saul. https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2021/schlechte_woerter/start.php, Teil 1 gehört am 25.10.2021.
****** Über die Rezeption von Kinderzeichnungen und die Geschichte der Kunstpädagogik vornehmlich in Westeuropa und Nordamerika: Barbara Wittmann. Bedeutungsvolle Kritzeleien. Eine Kultur- und Wissensgeschichte der Kinderzeichnung, 1500-1950. Zürich und Berlin: Diaphanes, 2018.